Ergänzungsneubau Carlo Schmid Gymnasium Tübingen
IDENTITÄT
Das Raumgefüge des vorhandenen Schulareals erlangt seine Gestaltqualität durch die umgebenden Bestandsgebäude aus den frühen achtziger Jahren. Diese sind als raumbildende Figuren maßgebend an der Raumfassung beteiligt. Hervortretendes Merkmal auf dem Schulcampusareal ist das breite Spektrum unterschiedlich adaptierbarer Außen- und Zwischenraumqualitäten. Vorherrschend ist die Idee desHauses als zusammenhängendes übergeordnetes konfiguratives System in Form eines raumdefinierenden Gebäudeclusters. Dabei handelt es sich um ein interpre-tierbares, anpassbares und erweiterbares Gebilde ohne fassbare Individualität undEntität. Unser Entwurf für die Erweiterung des Schulareals setzt sich mit dem „an-deren Ort“ als Keimzelle oder auch Kristallisationspunkt des Städtischen, sowohlin seiner räumlichen und architektonischen Disposition auseinander, um so Initialfür weitreichende, über das jeweilige Projekt hinausgehende, positive Veränderun-gen im Stadtraum zu sein. Gerade durch seine architektonische Bedeutung, seineAndersartigkeit und Begrenztheit wird er im gesteckten Rahmen gestaltbildendwirken und eine Transformation vom baulichen Agglomerat zur Stadt einleiten. Inmitten des unspezifischen Umfelds entsteht ein neuer Ort der architektonischen und städtebaulichen Gravitation, der eine Lesbarkeit über das Mittel eines architektonischen Gedankens ermöglicht, und damit ganz wesentlich, Identifikation und Orientierung im Raum und vor allem die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls zu diesem Raum eröffnet.
STÄDTEBAULICHE SETZUNG
Mit seiner klaren und unaufgeregten Setzung reiht sich der neue Baukörper im Sin-ne dieser Displacement Strategie als „anderer Ort“ gestaltprägend, aber dennochunspektakulär in den bestehenden Schulcampus ein. Etwas zurückgesetzt vom Straßenraum, um einen entsprechenden Vorplatz auszubilden und die bestehende Tiefgarage nicht zu beeinträchtigen, rückt das Volumen mit quadratischer Grundfigur in eine solitäre Position innerhalb des Schulensembles. Die zentrale Lage wird dadurch bestärkt, dass alle Seiten gleichwertig behandelt werden, ohne eine „Rückseite“ auszubilden. Der Erweiterungsbau wird so zu einem zentralen Baustein mit universaler Nutzung wie ein „Tempel“ auf dem Forum des Wissens.
SCHULE ALS KOKON
Die Faszination des Gebäudes offenbart sich erst auf den 2. Blick. Ein „Gewandaus Holz“ - aus wiederverwendetem Altholz - umhüllt das Gebäude und bildet einen spannungsvollen Filter zwischen der Innen- und Außenwelt. An ausgewählten Stellen wird das „Kokon“ geöffnet und erlaubt Blicke in oder aus dem Schulalltag. Durch die vorgehängte Holzfassade entsteht nicht nur ein Tageslichtfilter mit passiver Sonnenschutzfunktion, sondern gibt den Schüler- und Schülerinnen ein gewisses Gefühl der Geborgenheit. Wir sehen die Schule auch als einen Rückzugsort und Ort der Ruhe und Konzentration.
OFFENES RAUMKONTINUUM
Der neue Erweiterungsbau präsentiert sich gleichermaßen als offenes, kommuni-katives Haus. In Verlängerung des Vorplatzes im Südwesten führt ein „öffentlicherBoulevard“ als „Rue Intérieur“ wie eine Passage durch das Gebäude hindurch bis zum Schulhof im Nordwesten. Eine Treppenskulptur mit Sitzstufen inmitten des Gebäudes überlagert diese Wegebeziehung und eröffnet den Blick in den Himmel. Als zentrales Atrium mit Oberlicht bildet es den „3.Ort“ mit vielerlei Nutzungsmöglichkeiten, z.B. als „Debattierclub“, Vorführort, oder einfach als Treffpunkt für Schüler- und Schülerinnen während der Pausenzeiten. So entsteht in Überlagerungoder Vermischung von Eigenschaften und Raumzonen ein produktiv adaptierbarer Zwischenraum als Wissensaustausch- und Vermittlungsplattform. Wie in einem dicht überlagerten städtischen Gefüge ergeben sich vielfältige Möglichkeiten zur Querprogrammierung, Aneignung und Vernetzung. Die sich durch die Dichte der Übermischung ergebenden programmatischen Kollisionen erzeugen unvorhergesehenen Austausch und können idealer Nährboden sein für ein kommunikatives, forschendes und kreatives Lernen.
NEUE LERN- UND LEHRKULTUR
Das neue Schulhaus ermöglicht einen niederschwelligen Wechsel zwischen Orten und Phasen der Konzentration sowie der Regeneration und Inspiration. Dies gelingt durch ein fein ausdifferenziertes Angebot an Aufenthalts- und Erholungsbereichen sowohl innerhalb einzelner Funktionsbereiche als auch am Schulstandort einschließlich der Außenbereiche. Die wachsende Bedeutung des informellen Lernens im Rahmen heute zunehmend kompetenzorientierter Lernprozesse zum Erwerb von Methoden- kompetenz, bei denen Aktivitäten, Emotionen, Kognitionen und Situationen auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind, erfordert Räume die dem breiten Spektrum an zeitgemäßen Lehr- und Lernmethoden Rechnung tragen und einen unkomplizierten Wechsel zwischen Instruktion, Einzelarbeit, Gruppenarbeit, Präsentation von Lernergebnissen und Reflexion von Lernprozessen ermöglichen. Hierfür stellt der Entwurf das räumliche Konzept einer natürlich belichteten, frei bespielbaren und vielfältig adaptierbaren räumlichen Mitte als Hallenraum im Zen-trum des Hauses zur Verfügung. Als zentraler Ort der Belichtung und Orientierungfungiert ein über alle Geschosse durchlaufender Atrium-Hof, welcher durch ein Schachtel-Treppenhaus mit seinen beiden notwendigen Treppen flankiert wird und direkt an die Clustermitte der Lernateliers angrenzt. Balkone im Luftraum des Atriums bieten die Möglichkeit des Einblickes und Mitwirkens auf die Sitztreppe im Zentrum des Hauses und verstehen sich als eine Art Bühne in der Öffentlichkeit desAtriums. In umgekehrter Lesart können sie aber auch als Rückzugsort zum Selbst-studium dienen.
NUTZUNGSVERTEILUNG
Programmatisches Leitbild unseres Entwurfes ist die Idee eines Compartment-Schulhauses bei der, als Abbild sozialer Gemeinschaften, mehrere kleinere, mehroder weniger autonome Schuleinheiten innerhalb eines übergeordneten Gebäudes untergebracht werden. In direkter räumlicher Beziehung gruppieren sich dreiJahrgangsstufen (10/11/12) jeweils mit Lernatelier als offener Lern- und Arbeits-bereich mit direkt zugänglichen Lehr- und Lernmittelräumen sowie ein jeweils eineWC- und Nebenraumzone an die Forumsbereiche des Atriums. Ein Teamraum bzw. Besprechungsraum pro Geschoss für das pädagogische Personal komplettiert das Raumangebot der jeweiligen Lernebene. Getreu des Prinzips Gemeinsam, mitei-nander und voneinander lernen ermöglicht die Aufteilung in überschaubare Ein-heiten Synergien bei der Wissensvermittlung nicht nur über die Lehrkraft und denMitschüler oder die Mitschülerin, sondern auch das Lernen mit unter-schiedlichen Wissensständen bei dem auch Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher voneinander profitieren. Die Spannweite reicht hierbei von eher geschlossenen Frontalklassen-zimmern bis zu offenen Lernlandschaften mit vielfältig codierbaren Teilungs-undAdaptionsflächen im Bereich der jeweiligen Clustermitte, im Lernatelier oder im vorgelagerten Hallenraum. Die erforderlichen Sichtbeziehungen zu diesem Forumwerden über großflächig aufgeglaste Galeriewandtüren gewährleistet. Das Thema der raumhaltigen (Flur-) Wand kann die notwendigen Stau- und Lagerflächen für Lern und Lehrmittel bieten.
TIEFGARAGE
Die sorgfältige etwas von der Straße zurückgesetzte Situierung des Baukörpersauf dem Grundstück ist in Bezug auf die Beeinträchtigung des unterirdischen Ge-bäudebestandes minimalinvasiv konzipiert und ermöglicht es die vorhandene Tief-garage ohne Lasteintrag durch den Neubau unangetastet zu belassen, lediglich dieim Norden angeordnete Fluchttreppe kollidiert mit der Feuerwehrzufahrt und mussdaher zurückgebaut werden. Der 2.Fluchtweg wird über eine Tunnelanbindung an den Erweiterungsbau sichergestellt. Diese erlaubt auch eine barrierefreie Verbin-dung zum Carlo-Schmidt-Gymnasium.
FREIRAUMKONZEPT
Das schon im Altertum sprichwörtliche Lernen auf der Treppe ermöglicht im Ge-bäude eine zweiläufige, zentralsymmetrische Sitzstufenanlage, welche über inte-grierte Treppenstufen räumlich in die Obergeschosse vermittelt. Im Außenraum existiert bereits eine ähnliche Anlage vor dem Walter Erbe Gebäude, welche eben-falls mit Sitzstufen, hier allerdings amphitheaterartig, in das Schulhofgelände ein-gelassen ist und gewissermaßen als inverses Komplement zu unserem Entwurfverstanden werden kann. Die Außenraumkonzeption spielt thematisch mit diesem Gegensatzpaar aus raumdefinierenden und raumverdrängenden Elementen und mit dem Kippen der Figur-Grund-Beziehung in der Wahrnehmung des Körper-Raum-Kontinuums. Hierbei geht es um Schnittstellen und Mehrfachzuordnungen und den fließenden Übergang oder die Überlagerung zwischen dem öffentlichenund privaten Charakter diverser Raumschnittmengen. Wie bei der ambivalentenZuordnung von Schwarz und Weiss, von Objektfigur und Raumfigur im Schwarzplan wird Gestaltprägnanz gebildet in der Möglichkeit sich in einer Position zuverorten zu können, die im Körper und zugleich im Innen- bzw. Aussenraum liegt. Besonderes Augenmerk gilt daher den Übergangs- und Schwellenräumen, die den Übertritt zwischen den räumlichen Sphären abstufen, verzögern oder überhöhen.Konturen werden im Sinne einer transparenten Raumorganisation durch die Mehrdeutigkeiten in ihrer Zuordnung entschärft. So wurden vier geometrisch scharf geschnittene Interventionsareale eruiert, welche als unversiegelte Grünbereiche bzw. als präzise formulierte, anderweitig adaptierbare Felder vorstellig werden. Durch diese Maßnahme gelingt es, die Zwischenräume als „Schwellenräume“ zwischen den unterschiedlichen Zeitschichten der benachbarten Außenräume thematisch so aufzuladen, dass hier wiedererkennbare Orte des Verweilens entstehen
Auslober: Universitätsstadt Tübingen
Architekt: Moeller Soydan Architektur
Landschaft: TOPOS Landschaftsplanung
Brandschutz: KLW-Ingenieure GmbH
Standort: Primus-Truber-Straße Tübingen